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Jugendliteratur ist böse

6. Juni 2011

Irgendwie beschleicht mich manchmal das Gefühl, dass jede Woche ein anderes Buchgenre „gedisst“ wird, immer schön abwechselnd.

Hatte sich Nobelpreisträger V.S. Naipaul erst zu Beginn der Woche in einem Interview über schreibende Frauen im Allgemeinen ausgelassen, wurde den ohnehin schon gebeutelten Romance-Lesern den ganzen Mai über von selbsternannten Experten um die Ohren gehauen, was sie da für einen Unsinn lesen, der offenbar auch noch hochgefährlich ist.

Und nun, da wir das hinter uns haben, ist mal wieder die Jugendliteratur dran. Die ist nämlich, glaubt man einem am Samtag im Wall Street Journal erschienenen Artikel, dieser Tage gemeingefährlich [gefährlicher am Ende sogar als Romance?].

Dort wird von einer 46jährigen Mutter dreier Kinder berichtet, die in der Jugendbuchabteilung von Barnes and Noble einen kleinen Kulturschock erlitt: Vampire, Weltuntergang, Suizid! Entsetzlich düster, was unsere Jugend dieser Tage zu sich nimmt.
Teilnahmsvoll kommentiert die Autorin:

„How dark is contemporary fiction for teens? Darker than when you were a child, my dear: So dark that kidnapping and pederasty and incest and brutal beatings are now just part of the run of things in novels directed, broadly speaking, at children from the ages of 12 to 18.“

Mord und Totschlag, geschildert bis ins Detail, werden offenbar dieser Tage auf unsere Jugend losgelassen:

„If books show us the world, teen fiction can be like a hall of fun-house mirrors, constantly reflecting back hideously distorted portrayals of what life is. There are of course exceptions, but a careless young reader—or one who seeks out depravity—will find himself surrounded by images not of joy or beauty but of damage, brutality and losses of the most horrendous kinds.“

Die Schlussfolgerung daraus: Die Jugend verroht und wird auf falsche Gedanken gebracht. Jugendbücher übers Ritzen, deutet die Autorin an, würden das selbstzerstörerische Verhalten Jugendlicher mit psychischer Probleme befördern. Und die bösen Bibliothekarinnen würden sich doch glatt weigern, diese Bücher aus ihren Regalen zu nehmen.

Und nachdem sie einige der schlimmen Bücher sehr eindrucksvoll beschrieben [zugegeben, mir wurde – wie zweifellos von der Autorin beabsichtigt – stellenweise auch ganz übel] und sie sie den tollen Jugendbüchern aus den 70ern, als die Welt noch in Ordnung war, gegenübergestellt hat, kommt sie schließlich zum Punkt:

„In a letter excerpted by the industry magazine, the Horn Book, several years ago, an editor bemoaned the need, in order to get the book into schools, to strip expletives from Chris Lynch’s 2005 novel, „Inexcusable,“ which revolves around a thuggish jock and the rape he commits. „I don’t, as a rule, like to do this on young adult books,“ the editor grumbled, „I don’t want to compromise on how kids really talk. I don’t want to acknowledge those f—ing gatekeepers.
By f—ing gatekeepers (the letter-writing editor spelled it out), she meant those who think it’s appropriate to guide what young people read. In the book trade, this is known as „banning.“ In the parenting trade, however, we call this „judgment“ or „taste.“ It is a dereliction of duty not to make distinctions in every other aspect of a young person’s life between more and less desirable options. Yet let a gatekeeper object to a book and the industry pulls up its petticoats and shrieks „censorship!““

Wenn Eltern dafür sorgen, dass Jugendbücher wie „Suzanne Collins’s hyper-violent, best-selling „Hunger Games“ trilogy“  aus Schulbibliotheken verbannt werden, ist das also keine Zensur, sondern lediglich Pflichterfüllung.

Und so beschließt sie ihre Streitschrift für das „book banning“ die Pflichterfüllung mit den Worten:

„The book business exists to sell books; parents exist to rear children, and oughtn’t be daunted by cries of censorship. No family is obliged to acquiesce when publishers use the vehicle of fundamental free-expression principles to try to bulldoze coarseness or misery into their children’s lives.“

Es gab Momente, da musste ich beim Lesen dieses Artikels wirklich lachen. Man verzeihe mir, wenn ich so einen einseitigen und populistischen Quatsch nicht ernst nehmen kann. Ganz im Gegensatz übrigens zu den überaus streitbaren amerikanischen YA-Autoren. Libba Bray und Maureen Johnson bombadierten das Wall Street Journal gestern und heute mit Tweets. Und schließlich gründete letztere den Hashtag #YAsaves, in dem sie Leser dazu aufrief, zu erzählen, wie Jugendliteratur mit schwierigen Themen ihnen aus schweren Phasen ihres Lebens herausgeholfen hat.

Unterstützt wurde sie dabei unter anderem auch von Neil Gaiman. Zwischenzeitlich war dieser Hashtag weltweites Trending Topic (und flog mir derartig oft um die Ohren, dass ich mich fast genötigt sah, ein paar Zeilen darüber zu schreiben) und er wurde seit gestern beinahe 30.000 Mal benutzt. Mittlerweile hat selbst das Wall Street Journal einen Hinweis auf die Aktion zu dem ursprünglichen Artikel hinzugefügt.

Ich werde mir hier nicht die Mühe machen, die vielen Stellungnahmen, auch von YA-Autoren, zu diesem Thema zu listen, zumal das meiste nur getwittert wurde. Wer daran interessiert ist, wird selbst fündig werden. Cleolinda (deren Journal auch schon bei der „Pretty Wicked Things“-Sache unglaublich informativ war) hat einen Post mit einigen Twitterreaktionen, in der auch ein paar nette, „schmutzige“ Details über die Autorin des Artikels zur Sprache kommen. Ich könnte mir vorstellen, dass sie auch weiterhin berichten wird, wenn es Neues zu dem Thema gibt. Immerhin ist die Geschichte erst einen Tag alt, da ist noch Raum für mindestens eine Woche dramatische Empörung (nicht falsch verstehen, ich sehe durchaus ein, dass in den USA, wo das Verbannen von Büchern aus Schulbibliotheken recht verbreitet ist, so ein Artikel die Leute auf die Palme bringt, aber ein Teil von mir muss immer über den Wirbel schmunzeln, der zu solchen Gelegenheiten veranstaltet wird). Nichtdestotrotz bin ich mal wieder beeindruckt, welche Kraft Plattformen wie Twitter durch die sehr effektive Vernetzung von Millionen von Menschen entfesseln können.

In einer Sache gebe ich der Autorin des Artikels übrigens sogar Recht: Jugendbücher werden erwachsener. Und manchmal gibt es auch Fälle, wo ich das mit gemischten Gefühlen sehe (eventuell schreibe ich dazu seperat noch einmal etwas), aber darum geht es der Autorin ja gar nicht. Sie versucht lediglich das Verbannen von Büchern zu rechtfertigen und malt dazu das völlig übertriebene Bild von der bluttriefenden Jugendliteratur voller sinnloser Gewalt. Tatsächlich richten sich diese Aktionen aber gegen alles, was kritisch, anders oder eben nicht christlich genug ist, wie die jedes Jahr herausgegebenen Listen verbannter Bücher zeigen.

16 Kommentare leave one →
  1. 6. Juni 2011 10:23

    Die Diskussion habe ich auch mitbekommen. In den USA scheint dieses Thema wirklich öfter mal aufzukommen, ob es jetzt nun generell um die Thematik in Jugendbüchern geht, oder um die Zensur dessen. Ein schöner Artikel, der das alles super zusammenfasst! 🙂

    Ich persönlich finde es auch immer wieder zum kopfschütteln, wenn ich sowas lesen muss. Warum sollten Teenies von solchen Themen fern gehalten werden? Schließlich kann das doch auch nur den Horizont und die Sichtweisen erweitern und einem mal vor Augen halten, wie es da draußen so zugehen kann. Hat irgendjemand schon mal ein Wort darüber verloren, dass Max und Moritz in ihrem Märchen einen qualvollen Tod sterben mussten, um Kleinkindern beizubringen nicht frech zu sein? Ich kann mich zumindest nicht an solche Gespräche erinnern.

    Letztendlich ist es doch ausschlaggebend, was das Buch aussagen will. Suzanne Collin’s Hunger Games haben ja nicht als Inhalt das Morden von Teenies, sondern eher den Aufstand gegen das Regime. Wenn man natürlich eine solch begrenzte Denkweise, wie diese besagte Mutter hat, dann kann das natürlich nichts werden. *eye roll* Und wie ein solcher Artikel im Wall Street Journal enden kann, verstehe ich sowieso schon nicht…

    • 6. Juni 2011 19:12

      Danke. 🙂

      Verbieten ist natürlich viel einfacher als Auseinandersetzung. Vor allem, wenn der eigene Horizont, wie in diesem Fall, zu begrenzt ist, um selbst die einfachsten Botschaften (siehe Hunger Games) zu verstehen. Und dann wieder glaube ich, dass der Aufstand gegen das Regime auch keine Botschaft wäre, die ihr gefallen würde. *g*

  2. 6. Juni 2011 10:58

    Was für ein Schwachsinn!
    Wenn man mal ein bisschen was zu der Autorin dieses sinnfreien Artikels liest, wird einem alles klar 😦

    • 6. Juni 2011 19:13

      Ja, irgendwie überraschte mich das nicht, diese Dinge über sie zu lesen. Irgendwie sind es immer die gleichen, die so etwas von sich geben.

  3. Puzzeline permalink
    6. Juni 2011 12:25

    Davon habe ich gar nichts mitbekommen!
    Was aber klar ist: Im prüden Amerika stößt sowas natürlich auf fruchtbaren Boden. Ich persönlich bin schockiert, wie man Jugendliteratur einfach als brutal und verblödend hinstellen kann. Was sagt diese anscheinend sehr intelligente Frau denn bitteschön zu Thrillern?:D

    • 6. Juni 2011 19:16

      Ist ja alles nur MIttel zum Zweck. Ich weiß gar nicht, ob die Frau selbst an das glaubt, was sie schreibt. Tatsache ist, dass sie mal wieder das wirksamste Mittel der Manipulation nutzt, das es gibt: Angst.
      Jeder unbedarften Mutter wird doch ganz anders, wenn sie diese Zeilen liest und schwupps, haben wir ein paar Mitstreiter mehr, die uns helfen nicht nur gewalttätige Bücher aus Schulbibliotheken zu vertreiben, sondern auch Bücher mit homosexuellen Charakteren oder unchristlichen und zu kritischen Gedanken.

  4. 6. Juni 2011 13:16

    Ich hab vorhin auch meinen Reader geöffnet und erst mal 3 Autoren-Posts zu dem Thema gelesen. Hach, da kann ich eigentlich kaum noch etwas hinzufügen. Manche Menschen sind einfach dummdummdumm, aber ich finde es toll, dass auf sowas immer sofort eine riesige Gegenwelle folgt, freut mich sehr, dass Autoren und Leser da so engagiert dagegen halten 🙂

    • 6. Juni 2011 19:17

      Ja, irgendwie schön, wie nah da die Netzgemeinschaft der Autoren und Leser zusammenrückt.

  5. Bon-sai permalink
    7. Juni 2011 05:17

    Bei uns im Laden war kürzlich auch eine Frau, die uns auch schon fast beschimpft hat, was uns denn einfällt, dass wir überall Bücher über Mord-und Totschlag hinlegen. Und was wir denn für unverantwortliche Menschen sind und da kommen doch überall Kinder hin und wir sind quasi mitschuld, wenn die sich schlecht entwickeln. Ich hab sie dann darauf hingewiesen, dass wir uns in der Krimi-Abteilung befinden, und da gehen die Bücher nunmal über MORD!!!! Sie hat uns dann, allenernstes vorgeschlagen, Krimis doch bitte in den Keller zu bauen und nur Erwachsenen dort hinzulassen. Auf unseren Kommentar, dass das nicht möglich sei, ist sie dann mit den Worten „Na gut…ich hab eh schon die Polizei informiert“ abgerauscht.

    • 7. Juni 2011 08:21

      *lol* Kam die Polizei dann?

      • Bon-sai permalink
        8. Juni 2011 04:12

        hehe natürlich nicht. Die werden sich auch ihren Teil gedacht haben. Aber ein paar Wochen zuvor hatten wir auch schon eine Kundin, die uns dafür verantwortlich gemacht hat, das jede dritte Ehe geschieden wird, weil wir ja nur Schweinkrambücher bei der Partnerschaft haben und keine seriösen, katholischen, christlichen, vom Papst abgesegneten Eheberater da haben. Wir bösen Menschen werden wohl oder übel damit rechnen müssen, dass wir in die Hölle kommen.

        • 8. Juni 2011 18:24

          Kommen wir Buchhändler doch sowieso, weil wir immer die Bücher vor den armen Kunden verstecken und behaupten, die wären noch nicht erschienen. *lach*

  6. 7. Juni 2011 19:57

    Mhm. Wenn man mal darüber nachdenkt, was man alles NICHT lesen soll … was bleibt denn übrig, WAS man lesen soll? Ist das dann nicht wesentlich gefährlicher? (Na ja, nur etwas von Männern ist schon gefährlich genug ;-), nichts Phantastisches mehr, nichts, das „Probleme“ anspricht, nichts, in dem nicht von Gott (wahrscheinlich auch nur diese eine Religion) die Rede ist, nichts von Autoren mit tadellosem Lebenslauf …)
    Ich kann ehrlich gesagt nur noch mit den Augen rollen.
    Und wie als Hohn, kommt gerade in dem Moment wo ich denke, das passiert nur über’n Ozean, eine Frau E.H. und trägt ihr Scheibchen bei …

    • 9. Juni 2011 21:21

      Frau E.H. ? Eva Herman ? Elke Heidenreich? *grübel* Da hab ich wohl was nicht mitbekommen.

  7. 9. Juni 2011 21:12

    Stimmt, laut einer „Frau E.H.“ sind Vampire & Co. ja durchweg Schund. Ich frag mich, ob sie tatsächlich alle gelesen hat.

    Gut, Eltern haben tatsächlich eine Verantwortung dafür, was ihre Kinder tun und machen, aber um da wirklich Einfluss zu nehmen, ist doch gerade dieses unsinnige Verhalten die komplett falsche Entscheidung. Mal abgesehen davon, dass Zensur nichts mit Pflichterfüllung zu tun hat, sondern viel mehr mit der Unfähigkeit, seinen eigenen (wenn auch manchmal unnötigen) Pflichten nachzukommen; alles, was verboten ist, ist doch gerade verlockend. Können oder wollen sie das nicht begreifen?

    Aber es geht ja um die Kinderlein, die man vor den bösen, bösen Büchern mit den noch böseren Inhalten schützen muss! (Ich muss bei sowas immer an das Buch „The Day They Came to Arrest the Book“ von Nat Hentoff denken – der Schulleiter einer Schule war so bessesen von seiner „Pflichterfüllung“, er hat letztlich Seiten aus jeder einzelnen Bibel der Schulbibo gerissen, weil die Geschichte zu brutal war. Warum regen sich diese Eltern nie über dieses Buch auf?)
    Es ist doch wirklich absoluter Schwachsinn. Die Realität besteht nun mal nicht aus rosa Zuckerwolken und auch wenn es viele düstere Bücher gibt und gewiss nicht jedermanns Leben so aussieht – wenn man etwas Hirn hat und die Bücher richtig liest, merkt man schon, dass diese Geschichten ganz gewiss nichts Animierendes haben; und Kinder sind dazu durchaus in der Lage, man stelle sich nur vor.
    Aber was erzähl ich das euch. xD Solche Menschen gehören verhaftet für ihre Dummheit – denn die ist nun wirklich schädlich für ihre Kinder! (Was die Autorin wohl aber nicht stören sollte.)

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  1. Bücher über alles » [Buchsplitter] 11. Juni 2011

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