[Rezension] David Levithan: Two Boys Kissing
Eines der Dinge, die ich an David Levithan sehr schätze, ist die Tatsache, dass er seine Geschichten nicht einfach schlicht heruntererzählt, sondern auch mal die äußere Form oder ungewöhnliche Erzählhaltungen zu Hilfe nimmt, um auszudrücken, was er ausdrücken will. Das glückt aus meiner Sicht nicht immer, etwa im Wörterbuch der Liebenden, einer alphabetisch erzählten Liebesgeschichte, die mehr Konzept als alles andere ist, kann aber auch ein Gewinn für das Buch sein, wie in Will Grayson, Will Grayson, wo sein depressiver Held, der nur im Netz seinen Frieden findet, seine Geschichte in Kleinbuchstaben und Chatprotokollen statt Dialogen erzählt.
Auch sein erster Roman vor über 10 Jahren, Boy meets Boy war so ein Experiment. Es erzählt eine kleine Liebesgeschichte zwischen zwei Jungs an einer Highschool, ganz ohne das Problem der Diskriminierung. Viele Rezensenten haben kritisiert, dass sei unrealistisch und sind damit dem bewusst utopischen Charakter des Buches auf den Leim gegangen. Manchmal sagt etwas nicht zu erwähnen, mehr aus, als es zu erwähnen. Abgesehen davon, dass ich mir dieses Buch schon in Übersetzung gewünscht hätte, als vor einigen Jahren ein Vater zu mir in die Buchhandlung kam und ein Buch für seinen schwulen Sohn wollte und alles, was ich ihm damals anbieten konnte, Problembücher waren.
Mit Two Boys Kissing legt David Levithan jetzt einen Roman mit den Realitäten vor, die er uns in Boy meets Boy bewusst vorenthalten hat. Es erzählt kurze Ausschnitte aus dem Leben einer Reihe von schwulen Jugendlichen. Im Zentrum stehen Craig und Harry, die früher einmal ein Paar waren und die, nachdem ihr Freund Tariq überfallen und verprügelt wird, beschließen, ein Zeichen zu setzen, indem sie den Rekord für den längsten Kuss (24 Stunden) brechen und die Aktion live ins Internet übertragen. Dieser Teil des Buches ist von einer realen Gegebenheit inspiriert, allerdings ist alles außer dem Kussrekord frei erfunden.
Dann sind da Neil und Peter, die schon länger ein Paar sind und mit den Schwierigkeiten kämpfen, die auftreten, nachdem die erste heftige Verliebtheit vorbei ist. Da sind Ryan und Avery, die sich gerade erst kennengelernt haben und von all der Aufgeregtheit und Unsicherheit erfüllt sind, die das frisch Verliebsein so mit sich bringt. Avery, transgender, kämpft zudem mit der Frage nach Identität in einer Welt, die alles in hellblau und rosa aufteilt. Und dann ist da noch Cooper, der niemanden hat außer einschlägigen Internetseiten und den anonymen Männern dort, die Ablenkung aber kein Trost für die Einsamkeit und die Tatsache, dass seine Eltern ihn nicht akzeptieren, sind.
Eltern gibt es eine Menge in dem Buch: Offen unterstützende Eltern, oder solche, für die alles in Ordnung ist, solange nur nicht über die Sache geredet wird, oder solche die offen ablehnen, aber die meisten von ihnen lieben ihre Kinder dennoch, selbst wenn manchmal extreme Dinge geschehen müssen, um das zum Vorschein zu bringen. Eine der Stärken von Levithan ist es auch, beide, Eltern wie Jugendliche ernst zu nehmen. Und dann gibt es noch die Gesellschaft, die anderen Menschen, die vielleicht am besten von den Zuschauern von Craig und Harrys Kussrekord repräsentiert werden. Es gibt die pöbelnden, verfluchenden, verdammenden und es gibt die, die sich zwischen sie und das küssende Pärchen stellen.
Aber Levithan beschränkt sich nicht nur darauf, über verschiedene Facetten des Lebens schwuler Jugendlicher der aktuellen Generation zu schreiben, er beschwört auch die vergangenen Generationen herauf, indem er das Buch von einer Art allwissenden „griechischen Chor“ verstorbener Männer erzählen lässt, die Bilanz ziehen, das Geschehen beobachten und mitfiebern und ermutigen und appellieren. Das ist die erzählerische Besonderheit dieses Romans und vermutlich für die meisten Leser auch der Knackpunkt. Levithan fährt da keine kleinen Geschütze auf und diese Art zu erzählen hat von Natur aus schon einen gewissen Pathos und eine Melodramatik, der er jetzt nicht gerade entgegenwirkt. Ich kann jeden Leser verstehen, der damit nicht zurechtkommt, ich habe selbst lange gebraucht, um mich daran zu gewöhnen und während des Zuhörens häufig gedacht: Mensch, Levithan, wie wär’s mal mit ner Schippe weniger? Etliche der zitatwürdigen Aussagen des Buches schrammen wirklich nur knapp an der Plattitüde vorbei. Und trotzdem, wenn man sich darauf einlässt, funktioniert es und ist auf fast schmerzhafte Weise berührend. Man spürt, dass dieses Buch dem Autor wichtig war, es steckt Herzblut und Gefühl darin – und hier mag es geholfen haben, dass ich es als Hörbuch gehört habe, das von Levithan selbst gelesen wurde. Es legt den Finger auf das was wehtut, aber auch auf das, was Hoffnung gibt. Es ist ein Buch, das am Ende vor allem Mut machen soll, das zeigen soll, wie viel weiter unsere Generation schon ist als die unserer Großeltern und dass wir noch weiter kommen werden, bis hoffentlich irgendwann – und hier schließt sich der Kreis – Boy meets Boy kein utopischer Roman mehr sein wird.
Wertung: 4,0 (von 5,0)
Danke für den Hörbuch-Tipp. Um das Hörbuch schleiche ich jetzt seit einer Weile rum. Da ich aber gerade „Will Grayson, Will Grayson“ gelesen habe, wollte ich mir das Hörbuch jetzt als nächstes hören. Dann bin ich erst recht angestachelt jetzt ,-)
Da bin ich ja dann mal gespannt, ob es dir gefällt bzw. wie du mit der Erzählweise zurechtkommst.
Ich bin halb durch und es gefällt mir unglaublich gut. Es nimmt mich emotional total mit und ich fand am Anfang die Erzählweise erst ungewöhnlich, mittlerweile aber total super.
Ich hatte bisher selten so sehr das Gefühl, ein Buch über „mich“ zu lesen oder über „uns Schwule“. Sehr beeindruckend!